Individuelle Softwareentwicklung oder Standardsoftware
Mehr als 5,6 Milliarden Euro wurden 2021 mit Software in der Schweiz erwirtschaftet. 1 Die Mehrheit des Umsatzes generieren dabei Anbieter von Standardsoftware mit CRM-Tools, Marketing-Suiten oder ERP-Systeme. Sie vermarkten ihre Lösungen häufig als Eier legende Wollmilchsäue, aber werden sie der komplexen Realität in modernen Unternehmen wirklich gerecht? Erfahren Sie, wo Standardsoftware ihre Berechtigung hat und wann individuelle Softwareentwicklung die bessere Entscheidung für Ihr Unternehmen ist.
Individualentwicklung oder Standardsoftware: Definition und Unterschiede
Individuelle Software wird von Grund auf für die Bedürfnisse eines Unternehmens entwickelt und lässt sich damit genau auf den spezifischen Anwendungsfall anpassen. In der individuellen Softwareentwicklung haben Unternehmen die volle Kontrolle über den Entwicklungs- und Lebenszyklus der Software. Sie lösen spezifische Probleme und haben eine spitze Zielgruppe.
Standardsoftware wird nicht für eine einzelne Nutzer:in hergestellt, sondern für einen Markt entwickelt und verkauft. Gemäss Gartner umfasst die Kategorie Content-, Kommunikations- und Kollaborationssoftware, CRM-Software, Software für die Erstellung digitaler und anderer Inhalte, ERP-Software, Office-Suiten, Projekt- und Portfoliomanagement sowie SCM-Software. 2 Moderne Standardsoftware-Lösungen bieten häufig Schnittstellen, um einzelne Aspekte der Software zu individualisieren. Diese Erweiterungen bleiben aber an die Möglichkeiten der zugrundeliegenden Architektur gebunden. Ein ERP-System mit einer langsamen Datenbank wird beispielsweise auch durch ein neues Modul nicht effizienter.
Vorteile von individueller Softwareentwicklung
Eine Software für alle Anforderungen innerhalb einer Abteilung - das klingt attraktiv und wenn man den Werbeversprechen von Herstellerfirmen grosser Softwareprodukte Glauben schenkt, könnte man meinen, individuelle Software wäre überflüssig. Aber individuelle Softwareentwicklung bietet Unternehmen mehr Kontrolle über den gesamten Prozess und bietet dadurch eine Reihe von Vorteilen:
- Exakte Abstimmung auf die Nutzer:innen: Die beste Software ist nur so gut, wie sie von den Nutzer:innen bedienbar ist. Umfangreiche Funktionen nützen nichts, wenn sie hinter vielen Untermenüs versteckt sind und deshalb gar nicht verwendet werden. In der individuellen Softwareentwicklung wird die Endnutzer:in von Anfang an systematisch in den Entwicklungsprozess einbezogen. Durch die Entwicklung von Minimum Viable Products und Prototypen wird immer wieder Nutzer:innen-Feedback generiert, das in die weitere Entwicklung einfliesst. So entsteht eine Software, die exakt auf die Bedürfnisse der Zielgruppe abgestimmt ist. 3
- Überschaubarer Kostenrahmen: Auf den ersten Blick erscheint Standardsoftware günstiger als die Individualentwicklung. Allerdings treten bei Standardsoftware häufig Zusatzkosten für Schnittstellen und Erweiterungen auf, um die Software wirklich den eigenen Bedürfnissen anzupassen.
- Kein Lizenzrisiko: Mit dem Einsatz von lizenzierter Standardsoftware begeben sich Unternehmen in Abhängigkeit zum Software-Unternehmen und seinen Lizenzbedingungen.
- Kein Anbieterisiko: Was passiert, wenn der Entwickler einer Standardsoftware seinen Dienst einstellt - zum Beispiel aufgrund von Zahlungsunfähigkeit? Gerade bei SaaS-Produkten zeigen Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit, dass Unternehmen dann im Regen stehen gelassen werden.
- Passgenaues Investment: Standardsoftware zielt auf eine breite Zielgruppe. Unternehmen zahlen so Geld für Funktionen, die sie gar nicht benötigen. In der Individualentwicklung kann dagegen von Anfang an sichergestellt werden, dass die Software im Anforderungsrahmen liegt.
Vorteile von Standardsoftware
E-Mails, Marketing, Kundenbetreuung - viele Prozesse ähneln sich quer durch Unternehmen und Branchen. In diesen Situationen bietet Standardsoftware von etablierten Herstellern unter anderem diese Vorteile.
- Nahtlose Prozesse: Grosse Software-Plattformen für Marketing-Automation, Customer-Relationship-Management oder Enterprise Ressource Planen decken ganze Kernfunktionen im Unternehmen ab und ermöglichen nahtlose Prozesse durch einen zentralen Punkt, an dem alle Daten zusammenlaufen.
- Einfachere Compliance: Ab dem 1. September 2023 passt die Schweiz die Datenschutzverordnung der europäischen DSGVO an und das Obligationenrecht stellt strenge Anforderungen an die Archivierung geschäftlicher Dokumente. 4 Standardsoftware bietet einen etablierten digitalen Prozess, der sich bereits in der Praxis bewährt hat. Grundlegende Compliance-Probleme werden so vermieden. Auf der anderen Seite machen branchenspezifische Compliance-Anforderungen den rechtssicheren Einsatz einer Standardsoftware kompliziert.
- Sicherheit: 36 Prozent der Schweizer KMU wurden bereits Opfer einer Cyberattacke. 5 Moderne Software-Konzerne wie Microsoft investieren hohe Summen in die Sicherheit ihrer Softwareprodukte und Server, an denen Unternehmen mit einer Office-365-Lizenz profitieren. Gleichzeitig sind grosse Softwareanbieter aber auch für Cyberkriminelle ein attraktives Ziel. Schliesslich eröffnet eine Sicherheitslücke in einem Microsoft-Produkt Zugang zu Millionen von Systemen.
- Gutes Kosten-Nutzen-Verhältnis für Standardprozesse: Quer durch alle Branchen benötigen Unternehmen ähnliche Tools für Standard-Prozesse. Standardsoftware bietet für diese allgemeinen Prozesse ein besseres Kosten-Nutzen-Verhältnis als individuelle Software. Jedes Unternehmen benötigt eine Textverarbeitungssoftware, aber keines würde auf die Idee kommen, ein eigenes Produkt zu entwickeln.
2 Beispiele für individuelle Softwareentwicklung mit einem klaren ROI
Standardsoftware stösst spätestens dort an ihre Grenzen, wo ein Unternehmen vor spezifischen Herausforderungen steht, die weder für die Branche noch für die Wirtschaft als Ganze repräsentativ sind. Für die Herstellerfirmen von Standardsoftware lohnt es sich nicht, diese Bedürfnisse zu adressieren. Zwar bieten moderne Softwaresuiten häufig die Möglichkeit, Erweiterungen zu erstellen - dann ist der Aufwand aber oftmals mit individueller Softwareentwicklung vergleichbar. Die zwei Fälle aus meiner Praxis als App-Entwickler zeigen, wo individuelle Softwareentwicklung ihre Stärken voll ausspielen kann.
Kamera App für die Polizei Aargau
Mit dem Smartphone als Polizist:in Beweise sichern? Seit 2021 nutzt die Kantonspolizei Aargau dafür POKA, die App zum Erfassen und sicheren Verwahren von Beweisfotos und -videos. POKA (kurz für Polizei-Kamera) löst damit die Digitalkameras ab, die vorher im Einsatz waren und macht den Prozess der Beweissicherung für das 750-köpfige effizienter und komfortabler, während die Kantonspolizei Ressourcen für den Kauf und die Beschaffung der Kameras einspart.
Mobile App für Führungen in lauten Umgebungen
In grossen Gruppen und lauten Umgebungen werden Führungen schnell zur Schreierei. Standardlösungen setzen häufig auf Wegwerfkopfhörer oder andere Geräte. Allerdings haben heute praktisch alle ein Smartphone in der Tasche, das diesen Geräten in der Tonqualität deutlich überlegen ist.
Audemi löst dieses Problem mit einer einfachen App. Die Gruppenleiter:in lädt sich einfach die App herunter und eröffnet einen neuen Raum. Die App erstellt dann einen QR-Code, der von den Teilnehmenden eingescannt wird. Nun können die Leiter:innen die Übertragung starten, während das Publikum per App zuhört. So entsteht durch audemi eine ruhige Atmosphäre, in der alle Teilnehmenden optimal eingebunden sind.
Fazit: Individuelle Softwareentwicklung oder Standardsoftware?
Mehr als 75 Prozent der Entscheider:innen in Schweizer KMU glauben, dass die Digitalisierung ihren Markt stark verändern wird. 6 Die Bedeutung von Software bei der Gestaltung dieser Transformationsprozesse wird daher weiter steigen. Standardsoftware bildet dabei alle Unternehmen die technische Basis, um grundlegende Geschäftsfunktionen digital abzubilden. Spätestens wenn es um unternehmensspezifische Prozesse und die Entwicklung einer Customer Experience auf Höhe der Zeit geht, sind individuelle Apps der Standardsoftware überlegen. Passgenau programmierte Software bietet für jedes Unternehmen die Chance, von den Vorteilen der Digitalisierung zu profitieren und mit massgeschneiderten Anwendungen ein Alleinstellungsmerkmal zu erarbeiten.
Quellenverzeichnis
Footnotes
-
Umsatz mit Software in der Schweiz von 2016 bis 2021. Website von Statista. Abgerufen am 28. September 2022. ↩
-
Definition of Enterprise Application Software. Website von Gartner. Abgerufen am 28. September 2022. ↩
-
Definition of Minimum Viable Product (MVP). Website von Gartner. Abgerufen am 28. September 2022. ↩
-
Neues Datenschutzrecht ab 1. September 2023. Website der Schweizerischen Bundeskanzlei. Abgerufen am 28. September 2022. ↩
-
Statistiken zur Internetkriminalität in der Schweiz. Website von Statista. Abgerufen am 28. September 2022. ↩
-
Digitalisierung – wo stehen Schweizer KMU?, 2016, S. 5. ↩